Die Gretchenfrage

Thailand - Ende Mai 2017

"Welche Religion habt ihr" fragt Pot. 

Wir sitzen im Auto des Thailänders, der uns für 3 Nächte in seinem Haus aufgenommen hat. Wir haben ihn über die Internetplatform warmshowers kontaktiert und dürfen nun 2 Tage mit ihm und seiner Familie verbringen. Der ältere der beiden Söhne ist 6 Jahre alt und spricht besser englisch als sein Vater. Das erstaunliche daran ist, dass er sich die Fremdsprache mittels YouTube-Videos selbst beibringt.

 

Trotzdem sind seine Fragen deutlich einfacher zu beantworten als die saeines Papas. 

 

Wir sind in Satun, die letzte thailändische Stadt bevor wir auf die Fähre Richtung Malaysia steigen. Malaysia ist islamisch geprägt und bereits hier im Süden Thailands gibt es mehr und mehr Moscheen, Frauen mit Kopftuch und Männer in Gewändern, von denen ich nicht weiß wie man sie nennt. 

Pots Frau kommt aus Malaysia und er ist zum Islam konvertiert um sie heiraten zu können. 

Als er uns diese Frage stellt sind wir gerade auf dem Rückweg vom Markt wo wir Zutaten für das Abendessen besorgt haben. 

 

Lena und ich hatten schon vor langem über unsere Antwort auf diese Frage gesprochen. Im Iran haben wir einfach behauptet Christen zu sein um umständlichen Erklärungen aus dem Weg zu gehen und weil es vielleicht garnicht so weit weg von der Wahrheit ist. 

 

Die Wahrheit ist allerdings kompliziert, zumindest für jemanden wie Pot. 

Unser Glauben beschränkt sich darauf, dass wir davon überzeugt sind aus irgendetwas entstanden zu sein, was es vermutlich auch jetzt noch gibt. Irgendwo muss dieses große Ganze ja hergekommen sein. Falls die Theorie vom Urknall stimmt, muss es doch auch vorher was gegeben haben?! Irgendwas oder irgendwer muss die Schnur vom Knaller ja angezündet haben. Wir gehen nicht soweit diesem etwas einen Namen zu geben. Wir finden auch nicht, dass wir durch irgendwelche Rituale unser oder das Leben anderer beeinflussen könnten oder müssten. Es ist uns auch egal ob dieses vorher dagewesene, dieses schon immer dagewesene ein höheres Wesen oder eine für den Menschen tatsächlich erklärbare, verständliche, physikalische Kraft ist. Wer weiß, vielleicht fällt einem klugen Menschen mal ein Apfel auf den Kopf und unser Gott wäre plötzlich berechenbar. Unser "Glaube" wäre eine physikalische Formel. Wär' doch super! 

Kurzum, unsere Religion hat keinen Namen. Und selbst wenn sie einen Namen hätte, dann wäre sie wohl keine offizielle. 

Wann ist eine Religion eigentlich eine solche? Gibt's eine Mindestmenge an Gläubigen, die es braucht? 

 

Pot ahnt sicher nicht, wie schwierig seine Frage für uns ist. Für ihn ist es wohl nicht nachvollziehbar, dass jemand keine "richtige" Religion hat. Wir versuchen unseren Standpunkt (vielleicht ein besseres Wort als Religion?) zu erklären weil wir ihn eigentlich für aufgeschlossen genug halten und sein englisch halbwegs ausreichend sein sollte. Doch es klappt nicht, er versteht es nicht. Wie auch? Für ihn ist die Sache klar und unser Gestammel völlig unverständlich. Man muss doch eine Religion haben, dass gehört doch zum Leben dazu. 

 

Am nächsten Tag nimmt uns Pot mit zu seiner Arbeit. Er ist eine Art Elektrotechniker bei einem Radiosender. Wir sitzen in dem kleinen Gebäude herum und machen im Prinzip nichts, genauso wie er. Es gibt einen großen Sendemast, einen kleinen Raum in dem der Moderator sitzt und nebenan ein paar Schreibtische und eine Couch. 

Wir werden irgendwann zum Interview genötigt und sitzen kurz darauf mit Kopfhörern vor Mikrofon und Moderator. Wir beantworten ein paar Fragen auf englisch und hören zwischendurch viel thailändische Übersetzung. 

Das ist lustig und wir sind froh länger als geplant bei Pot geblieben zu sein. Wir essen auch noch gemeinsam mit einem Teil des Radiosender-Teams zu Mittag. Als wir Pot auf seine Konvertierung zum Islam ansprechen merken wir recht schnell, dass er es nicht so streng mit seiner neuen Religion hält. Er isst weiterhin Schweinefleisch und 5 mal täglich zu beten kommt ihm auch nicht in den Sinn. Trotzdem würde er sich als Muslim bezeichnen, wenn man ihn nach seiner Religion fragen würde. Mir scheint, dass es für ihn den gleichen Status wie Staatsangehörigkeit hat. Jeder Mensch hat doch eine Nationalität, vielleicht auch mehrere. Aber es geht doch nicht, dass man keine hat. Das gleiche scheint er von Religion zu denken. 

Ob das wirklich so ist lässt sich schwer herausfinden - zu groß die Sprachbarriere ist. 

Das ganze zeigt aber irgendwie auch wie tolerant wohl viele Menschen bzgl Religion sind. Dabei sind Toleranz und Gleichgültigkeit allerdings auch nicht ganz so scharf trennbar. Im Iran wurde auf unsere halbwahre  Antwort meistens nur mit einem belanglosen Kopfnicken reagiert, auch von eindeutig sehr tiefgläubigen Menschen. Rückblickend hatte diese Frage eher den Charakter von "Was esst ihr in Deutschland für gewöhnlich zum Frühstück?" 

Gerade der Islam hat in puncto Toleranz gegenüber Andersgläubigen ein ziemlich schlechtes Image in der Welt. Unsere Erfahrungen zeigen allerdings, dass das ein völlig falsches Bild ist. 

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Kommentare: 5
  • #1

    Rico (Freitag, 03 August 2018 11:49)

    Es ist immer wieder interessant welche tiefgründige Fragen und Gedanken bei eurer Reise aufkommen bzw. wie ihr euch selbst reflektiert.
    Auch eine interessante Fragestellung, wenn man mal zwei Minuten länger über diese Thematik nachdenkt und es nicht einfach mit den Worten abtut. Ich bin nicht religös .
    Jan Eißfeldt a.k.a. Jan Delay hat dieses Thema mal gut umschrieben: "Ich weiss das es dort oben jemand gibt, kein Plan ob Mensch, ob Tier, ob Frau, ob Typ"

  • #2

    TiMo (Freitag, 03 August 2018 13:33)

    Ähnliche Erfahrung habe ich letztes Jahr im Himalaya gemacht. Mein zugeteilter Zimmerkollege Rohan aus Indien stellte mir ziemlich früh die Frage, welche Religion ich hätte. Meiner Antwort, dass ich keine habe, verwirrte und beschäftigte ihn sehr. Es war für ihn unverständlich und er meinte immer wieder, dass man doch an irgendetwas glauben müsse

  • #3

    Gaby (Freitag, 03 August 2018 13:46)

    Menschen, die glauben, dass jemand da oben oder wo auch immer für alles verantwortlich ist oder es so vorbestimmt hat, finden bei Schicksalsschlägen Trost und Halt. Eigentlich eine gute Sache, der Glaube. Leider wird aber die Religion an sich missbraucht, wie wir wissen.

  • #4

    Rüdiger Miertschink (Dienstag, 14 August 2018 23:14)

    Hallo, ihr beiden Weltenbummler. Bummler stimmt ja gar nicht, denn ihr seid ja immer in Bewegung.
    Es ist schon bemerkenswert, was auf einer großen Reise so passiert.
    Zur Gretchenfrage:
    An der Beantwortung der Frage, welche Religion die beste ist, haben sich schon viele versucht. Die bekanntesten Autoren dazu sind vielleicht Goethe – Faust (Gretchenfrage) und Lessing – Nathan der Weise (Ringparabel). Eine allgemeingültige Antwort wird es nie geben, weil streng genommen jeder Mensch seine Religion hat. Dazu was von Mahatma Gandhi: „Die Religionen sind verschiedene Wege, die alle zu dem gleichen Punkt hinführen. Was bedeutet es, dass wir verschiedene Pfade benützen, wenn wir doch das gleiche Ziel erreichen? In Wirklichkeit gibt es ebenso viele Religionen als Individuen.“
    Und noch was, ein Zitat von Berthold Auerbach: „Es ist doch nur ein Gott, der die Sonne scheinen und die Bäume wachsen lässt, und er weiß doch, wie es gemeint ist, ob man so oder so zu ihm betet.“ Gefällt mir sehr gut.
    Vielleicht noch kurz zu den Begriffen Glauben und Religion. Nach meiner Ansicht sind das zwei unterschiedliche Dinge.
    Das Wort Glaube (lateinisch fides; indogermanisch leubh ‚begehren‘, ‚lieb haben‘, loben‘) bezeichnet eine Grundhaltung des Vertrauens. Glauben kann der Mensch an wen oder was er will. Völlig egal ob der/die/das Gott, Fußball, Emma und Emil heißen oder sind. Glaube hilft überleben.
    Das Wort Religion leitet sich von dem lateinischen „religio“ ab, was Rückbindung bedeutet. Auf den ersten, schnellen Blick fast gleicher Inhalt. Allerdings wird Religion dadurch bestimmt, dass der Glaube bestimmten Lehren und Satzungen zu folgen hat. Und das ist schon wieder Zwang, sehe ich jedenfalls so. Siehe dazu auch, dass Pot zum Islam konvertieren musste, um seine Frau zu heiraten. Und dann nimmt er es damit nicht so genau, z. B. mit dem Fleisch und dem Beten...
    Noch zwei Zitate von großen Philosophen (zu denen du, Stefan, auch schon fast gehörst):
    Karl Marx (mein Lieblingsphilosoph): „Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volkes.“
    Lenin: “Die Religion ist eine Art geistiger Fusel, in dem die Sklaven des Kapitals ihre Menschenwürde und ihren Anspruch auf eine halbwegs menschenwürdige Existenz ersäufen.“
    Und zum Schluss: Ich kann mich nicht daran erinnern, dass ich jemals einen Menschen gefragt hätte, welche Religion er hat. Und mich hat auch noch nie jemand danach gefragt. Ich würde auf die Frage vielleicht antworten, dass ich ein christlich geprägter Atheist bin. Aber das versteht ein tiefreligiöser Mensch nicht, vermute ich jedenfalls. Eure Ansage im Iran „Wir sind Christen“ war genau richtig. Und stimmt im Grunde auch. Nur das ihr eben nicht einer Religion nachgeht.
    Aber warum stellt jemand solch eine Frage? Was für eine Antwort erwartet der Fragende? Und vor allem: Was will er mit der Antwort anfangen? Macht er die Art und Weise seines Umganges mit dem Befragten vom Inhalt der Antwort abhängig nach dem Motto: du hast meine Religion – du bist mein Freund; du hast nicht meine Religion - du bist mein Feind. Siehe dazu ein Zitat von Jonathan Swift:
    „Wir haben gerade Religion genug, um einander zu hassen, aber nicht genug, um einander zu lieben.“
    Oder ein Sprichwort: „Der Kluge sieht das Gemeinsame in den verschiedenen Religionen, der Dummkopf die Unterschiede.“
    Soweit erstmal. Viel Glück weiterhin. Glaubt an euch!

  • #5

    Bettina Martensmeier (Samstag, 23 Januar 2021 04:28)

    Ihr Lieben, was für ein toller Beitrag. Ich weiß nicht, ob ich ihn zu aktuellerer Zeit gelesen habe. Jetzt wo wir selber unterwegs sind, bekommt er eine ganz neue Dimension.
    Wirklich tiefgründig, weise hinterfragt. Ihr seid wirklich tief in die Kultur eingetaucht. Wir bleiben doch sehr auf Abstand, nicht bewusst gewollt aber wir bleiben Beobachter. Ihr inspiriert mich sehr.